Deutschland gegen USA…, Ifo-Chef Hans-Werner Sinn nimmt VW in Schutz und greift die US-Konkurrenz scharf an.

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Handelsblatt-Online, von Dietmar Neuerer, 25.09.2015

Wegen manipulierter Abgasmessungen bei Diesel-Fahrzeugen steht der VW-Konzern unter heftigem Beschuss. Ifo-Chef Hans-Werner Sinn nimmt das Unternehmen in Schutz und greift die US-Konkurrenz scharf an.
Berlin: Der Präsident des Münchner Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, hält die Kritik an VW für überzogen. Über Jahrzehnte hätten die Amerikaner versucht, „die kleinen und effizienten Dieselmotoren für Pkw durch immer weiter verschärfte Stickoxid-Grenzen vom Markt fernzuhalten, weil man selbst die Technologie nicht beherrschte“, sagte Sinn dem Handelsblatt.Gegen die „Stickoxid-Schleuderei der eigenen Trucks“ wiederum habe man in den USA nichts, so der Ifo-Präsident. „Nun hat sie endlich den gewünschten Erfolg. Der Diesel-Motor ist wieder weg. Meinen herzlichen Glückwunsch.“

Sinn kritisierte zudem dass in der VW-Affäre „mit zweierlei Maß gemessen“ werde. Der Konzern habe „regulatorische Arbitrage“ betrieben, wie sie in der Finanzindustrie allgegenwärtig sei. Besonders schlimm sei es, wenn Investment-Fonds ihre Portfolios so programmierten, dass sie bessere Bewertungen bekommen, als sie verdienen.

„Im Testlauf der Rating-Agenturen bekommen sie ein AAA, doch im Alltagsbetrieb erweisen sie sich wegen der in den Modellen nicht berücksichtigen Korrelationen als Geldvernichtungsmaschinen“, erklärte Sinn und fragte:  „Wo ist die europäische Verbraucherschutzbehörde, wo sind die Sammelklagen, die die Hersteller der betrügerischen ABS-Papiere aus Amerika mit Forderungen von Dutzenden von Milliarden Euro überschütten?“

Banken, die regulatorische Arbitrage betrieben, erläuterte Sinn weiter, trimmten ihre Geschäftsmodelle so, „dass sie im Testlauf mit ihrem Eigenkapital gerade hinkommen, während sie  im Normalbetrieb wesentlich mehr Eigenkapital bräuchten, als sie haben, um die Steuerzahler vor den Kosten eines Bail-out zu schützen“. 
„Aktiva, für die man viel Eigenkapital vorhalten muss, werden knapp gehalten, doch lädt man sich die Bilanzen zugleich mit Staatspapieren voll, fast die riskantesten Anlagen überhaupt, weil für sie in der Formel für die Berechnung der Kernkapitalquote ein Risikogewicht von null festgelegt ist.“ 
Manchen Banken sei es auf diese Weise gelungen, eine Eigen-kapitalquote zu kommunizieren, die fünf Mal so hoch war wie die tatsächliche.
Im Fall der VW-Abgasaffäre hätte der Konzern bei rechtzeitigem Handeln Schlimmeres verhindern können. Die US-Behörde bat schon vor über einem Jahr VW um Auskunft darüber, wie es zu den Unregelmäßigkeiten kommt. Ein Jahr hatte der Konzern Zeit, seine Autos zu überprüfen und nachzurüsten. Doch stattdessen gingen die Manipulationen weiter.
Von den Problemen mit manipulierten Abgaswerten bei VW sind neben Audi weitere Konzerntöchter betroffen. Innerhalb des Konzerns teilen sich die Unternehmen etliche Bauteile, darunter auch Motoren und Getriebe. Ein Sprecher der Volkswagentochter Skoda bestätigte am Donnerstag, dass der entsprechende Dieselmotor vom Typ EA 189 auch bei Skoda verbaut worden sei. Bei aktuellen Modellen gebe es aber keine Probleme.
Skoda hat nach eigenen Angaben in Deutschland einen Marktanteil von knapp 6 Prozent. Das Verkehrsministerium in Prag hat eine Untersuchung eingeleitet und will bei einer eventuellen Rückrufaktion behilflich sein, wie ein Sprecher mitteilte. Der VW-Konzern hatte eingeräumt, dass es bei Abgastests von Diesel-Fahrzeugen in den Vereinigten Staaten zu Manipulationen gekommen war.
Auch Seat bestätigte am Donnerstag, dass in dem Werk der spanischen VW-Tochter Fahrzeuge mit der manipulierten Diesel-Technologie montiert worden seien. Die genaue Zahl sei nicht bekannt, verlautete aus Unternehmenskreisen.
Eine Untersuchung solle nähere Aufschlüsse bringen.Die spanische Zeitung „El País“ berichtete, dass seit 2009 bei Seat eine halbe Million Autos mit der manipulierten Abgas-Technologie montiert worden seien. Als Quelle wurden inoffizielle Kreise genannt, die mit dem Unternehmen in Verbindung stünden.
Die Affäre sorgt für große Verunsicherung bei potentiellen Autokäufern. Laut einer Umfrage des ZDF-Politbarometers gehen 54 Prozent der Befragten davon aus, dass die Manipulationen VW dauerhaft schaden werden, 44 Prozent glauben das nicht. Das Vertrauen in die Angaben von Autoherstellern ist demnach generell nicht sehr groß: 76 Prozent sind der Meinung, dass bei Abgaswerten sehr häufig (29 Prozent) oder häufig (48 Prozent) Falschangaben gemacht werden.
Die Grünen im Bundestag verlangen nun von der deutschen Autoindustrie eine umfassende Offenlegung von Verbrauchs- und Abgaswerten. In einem Brief an den Präsidenten des Branchenverbands VDA, Matthias Wissmann, fordert Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter angesichts des Abgas-Skandals bei Volkswagen eine „umfassende Transparenzoffensive“.
Nur Offenheit könne den Schaden für die Branche begrenzen. „Aus diesem Grund müssen die deutschen Autokonzerne dringend sämtliche Informationen zum Stickoxid-Ausstoß der in Deutschland gebauten Diesel-Modelle offenlegen“, heißt es in dem am Freitag verbreiteten Brief.
Als Konsequenz aus dem VW-Skandal fordern die Grünen zudem eine Stärkung der Konsumentenrechte in Deutschland. „Es geht nicht an, dass getäuschte VW-Kunden in den USA Aussicht auf Entschädigung haben, in Deutschland aber nicht“, sagte die Grünen-Bundesvorsitzende Simone Peter dem Handelsblatt.
„Auch wenn sich der Schaden nicht immer in Euro und Cent bemessen lässt, darf die Irreführung von Verbrauchern nicht als Kavaliersdelikt behandelt werden. VW täte gut daran, den betroffenen Kunden von sich aus mehr anzubieten als wohlfeile Entschuldigungen.“
Peter verlangte überdies, künftig Sammelklagen nach amerikanischem Vorbild zuzulassen. „Außerdem sollte es geschädigten Verbrauchern gesetzlich erleichtert werden, sich bei Massenskandalen wie VW zu Gruppenklagen zusammenzuschließen“, sagte die Grünen-Politikerin.
Die Forderung schloss sich der Verbraucherzentrale Bundesverband (VZBV) an. VW habe Verbraucher mit der Manipulation von Abgaswerten massiv getäuscht, erklärte der Verband. Sofern sich daraus für Kunden finanzielle Ersatzansprüche ergäben, fehlten hierzulande bislang jedoch die rechtlichen Möglichkeiten, um die Ansprüche vieler geschädigter Verbraucher durchzusetzen.
Bisher gebe es in Deutschland keine Gruppenklagen. Wer nicht auf seinem Schaden sitzen bleiben wolle, müsse daher selber klagen. Deshalb fordere der VZBV die Einführung von Gruppenverfahren.
„Rechtsbruch darf sich für Unternehmen nicht lohnen. Es ist an der Zeit, dass Verbraucher nicht nur zu ihrem Recht, sondern auch zu ihrem Geld kommen“, sagte VZBV-Chef Klaus Müller. Zwar könnten Verbraucherzentralen stellvertretend für Betroffene klagen.
Diese Verfahren seien aber unverhältnismäßig aufwändig. Zugleich könnten die Verbände immer nur wenige Verbraucher vertreten, so dass es in Fällen mit vielen Betroffenen an der Breitenwirkung fehle.
Die EU-Kommission habe schon 2013 eine Empfehlung zur Einführung von Gruppenverfahren verabschiedet, erklärte der VZBV. Deutschland gehöre in Europa aber zu den Schlusslichtern bei Gruppenklagen. Die Bundesregierung solle daher handeln, forderte der Bundesverband.
Gruppenverfahren seien nicht mit Sammelklagen wie in den USA vergleichbar, erklärte der VZBV. Verbraucher in Deutschland sollten nur die Ansprüche geltend machen können, die jedem einzelnen zustehen und die theoretisch auch individuell durchsetzbar wären.